Daten und Fakten über Adhärenz
Der Begriff „Adhärenz“ (engl. »Adherence«) leitet sich aus dem lateinischen Wort „adherere“ ab, was so viel wie „festhalten, kleben“ bedeutet. Fragt man Ärztinnen und Ärzte, was sie unter Adhärenz verstehen, fallen häufig die Begriffe „Compliance“ oder „Therapietreue“. Tatsächlich hat der Begriff Adhärenz den lange gebräuchlichen Begriff „Compliance“ abgelöst, der dafür steht, dass der Patient die vom Arzt angeordneten Maßnahmen befolgt.
Die Kernidee der Adhärenz ist, dass Arzt und Patient gemeinsam Therapieziele festlegen und der Patient damit aktiv in die Therapieentscheidung einbezogen wird. Der erwartete Effekt ist, dass der Patient die Therapiemaßnahmen konsequenter umsetzt.
Die Realität sieht anders aus. In einem Beitrag auf www.gelbe-liste.de bin ich auf die Aussage gestoßen, dass „bis zu 50%“ der Arzneimittel nicht oder nicht korrekt eingenommen werden[1]. Der Autor gibt die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände als Quelle an. Das entspricht den Aussagen der WHO. Laut WHO kann man bei nur etwa der Hälfte der Patienten von einer guten Adhärenz sprechen[2].
Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein wesentlicher Aspekt ist sicherlich die ausgeprägte Skepsis in der Bevölkerung gegenüber Arzneimitteln. Weltweit versuchen nur in Frankreich mehr Menschen grundsätzlich Medikamente zu vermeiden als in Deutschland[3].
Sicherlich ändert sich die Einstellung gegenüber Arzneimitteln bei manchem, wenn ein Befragter zu einem Patienten mit einer ernsthaften Erkrankung wird. Dennoch spiegelt sich diese Skepsis auch in den Adhärenz-Studien wider.

Für Herzinfarktpatienten konnte z. B. gezeigt werden, dass innerhalb von bis zu vier Monaten nach dem Infarkt nur etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Patienten ihr Rezept einlösen, mit rückläufiger Tendenz im weiteren Zeitverlauf[4]. Ähnliche Beobachtungen gibt es bei der Herzinsuffizienz. Unter Patienten, die zumindest zwei Rezepte nach der Erstverschreibung eingelöst haben, sind nach einem Jahr nur noch zwei Drittel adhärent, nach zwei Jahren nur noch ein Drittel[5].

Je nachdem, welche Studie man zitiert, findet man sehr unterschiedliche Angaben über das Ausmaß der Non-Adhärenz. Weit weg von den 50%, von denen die WHO ausgeht, ist z. B. das Ergebnis einer Meta-Analyse, in die 569 Studien einbezogen wurden. Sie zeigte eine durchschnittliche Non-Adhärenz-Rate von 25 %[6].
Die Ursache dafür liegt darin, dass es keine allgemeingültigen oder einheitlichen Kriterien gibt, die definieren, ob ein Patient sich adhärent verhält oder nicht. Um das näher zu erläutern, will ich zwei Studien Glaukom skizzieren, die die Adhärenz von Glaukompatienten untersucht haben. Ein Glaukom führt zu einem erhöhten Augeninnendruck. Dadurch wird der Sehnerv geschädigt, was zur Einschränkung des Gesichtsfeldes führt und letztendlich die Erblindung des Patienten zur Folge haben kann. Das primäre Ziel der medikamentösen Therapie ist daher die Senkung des Augeninnendrucks.
Im Rahmen der ersten Studie von Gurwitz et. al. wurden 2440 Patienten (65 Jahre und älter) befragt, bei denen erstmals ein Glaukom diagnostiziert wurde und denen Augentropfen verschrieben wurden.
Als nicht adhärent wurden die Patienten eingestuft, die innerhalb von 12 Monaten nach Therapiebeginn kein zweites Rezept eingelöst haben[7]. Die Studie zeigte, dass die meisten Patienten anfangs ihre Augentropfen regelmäßig genommen haben, aber nach und nach immer unregelmäßiger – bis hin zum Absetzen. Viele Patienten nahmen ihre Augentropfen jeweils nur kurz vor einem Arzttermin.
Das Kriterium für Non-Adhärenz in der zweiten Studie war, wenn mehr als 5 % der Augentropfen nicht eingenommen wurden. Die Non-Adhärenz-Quote in dieser Studie lag bei 30,3 %. Diese Studie zeigte z. B. dass das Alter der Patienten, der soziale Status, die Schwere der Erkrankung und Angst vor Erblindung keinen Einfluss auf die Adhärenz hatte – wohl aber Nebenwirkungen und die Angst vor Nebenwirkungen[8].
Genau so unterschiedlich wie die Festlegung der Kriterien, an denen Non-Adhärenz festgemacht wird, sind die Gründe für non-adhärentes Verhalten, die die Studien aufdecken. Die WHO definiert fünf Kategorien von Gründen.
Krankheitsbedingte Faktoren
Dazu gehören die Schwere der Symptome, Progressionsraten, und Komorbiditäten, wie z. B. Depression, Alkohol, Drogenabhängigkeit.
Therapiebedingte Faktoren
Komplexität der Therapie, Dauer der Behandlung, Nebenwirkungen, häufige Änderungen der Behandlung.
Medizinische Betreuung / Faktoren des Gesundheitssystems
Systemkapazität, Aufklärung des Patienten, Vertrauen zum Arzt und zum medizinischen Personal.
Soziale / ökonomische Faktoren
Bildungsniveau, finanzielle Situation, Alter, soziales Umfeld (Unterstützung).
Patientenbezogene Faktoren
Angst vor Nebenwirkungen, Vergesslichkeit, psychosozialer Stress, Motivation, Wissen über die Erkrankung, Vertrauen in die Therapie.

Quellen:
[1] https://www.gelbe-liste.de/nachrichten/medikamente-falsche-einnahme-patienten#:~:text=Die%20k%C3%B6nnten%20Sie%20darauf%20hinweisen,abgegebenen%20Arzneimittel%20nicht%20korrekt%20eingenommen.
[2] Sabaté, E. (hrsg.): WHO Adherence to Long Term Therapies. Evidence for action, Global Adherence Interdisciplinary Network., & World Health Organization. Dept. of Management of Noncommunicable Diseases. (2003). Adherence to long-term therapies : evidence for action. Geneva: World Health Organization.
[3] https://de.statista.com/infografik/31445/anteil-der-befragten-die-versuchen-medikamente-zu-vermeiden/
[4] ackevicius CA et al.: Prevalence, predictors, and outcomes of primary nonadherence after acute myocardial infarction. Circulation 2008; 117(8): 1028-36
[5] Rasmussen AA et al.: Patient-reported outcomes and medication adherence in patients with heart failure. Eur Heart J Cardiovasc Pharmacother 2021; 7(4): 287-95
[6] van Dulmen S, Sluijs E, van Dijk L, de Ridder D, Heerdink R, Bensing J. Patient adherence to medical treatment: a review of reviews. BMC Health Serv Res. 2007 Apr 17;7:55. doi: 10.1186/1472-6963-7-55. PMID: 17439645; PMCID: PMC1955829.
[7] Gurwitz JH, Glynn RJ, Monane M, Everitt DE, Gilden D, Smith N, Avorn J. Treatment for glaucoma: adherence by the elderly. Am J Public Health. 1993 May;83(5):711-6. doi: 10.2105/ajph.83.5.711. PMID: 8484454; PMCID: PMC1694682.
[8] Wolfram C, Stahlberg E, Pfeiffer N. Pa[ent-Reported Nonadherence with Glaucoma Therapy. J Ocul Pharmacol Ther. 2019 May;35(4):223-228. doi: 10.1089/jop.2018.0134. Epub 2019 Mar 21. PMID: 30897019; PMCID: PMC6533777.